Sonntag, 18. November 2012

FÜ - Bücherstaub

Fingerübung: Bücherstaub“ von Galadriel
„Stellt euch vor, ihr würdet gerade als erster Mensch seit Jahrhunderten ein altes Archiv betreten. Alles ist vollgestellt mit zerfledderten Büchern, es staubt, Spinnen weben ihre Netze. Es ist, als ob die Zeit stehengeblieben ist.
Und jetzt eure Aufgabe: Beschreibt in einer Kurzgeschichte oder auch in einem Gedicht die düstere Stimmung in diesem Raum. Warum ist dieses Archiv vergessen? Was lagern dort für Schätze? Wo liegt das Archiv? Was würdet ihr tun, wenn ihr so einen Raum fändet, von dem so eine geheimnisumwitterte, dunkle Stimmung liegt, die auf euch so anziehend wirkt?
Aber vergesst auf jeden Fall nicht, Handlung hereinzubringen! Passiert gerade irgendetwas gruseliges? Wie ist der Charakter dorthin gekommen? Wurde er verfolgt?
Lasst eurer Kreativität freien Lauf …“

Bücherstaub
Caitlyn schlug die Augen wieder auf. Sie lag flach auf dem Rücken und über ihr drang schwaches Mondlicht durch eine Glaskuppel in der Decke. Der Raum drehte sich und ein pulsierender Schmerz an ihrem Hinterkopf sagte ihr, dass sie ziemlich hart aufgeschlagen war. Was war passiert? Sie ließ noch mal alles Revue passieren.
Da war der Wald gewesen. Sie war spazieren gegangen. Wieso genau, wusste sie nicht mehr. Wahrscheinlich um den Kopf frei zu bekommen. Und dann?
Sie erinnerte sich an die dunklen Schatten zwischen den Bäumen, an Moos und den Geruch von feuchtem Holz. Davon war nichts mehr übrig. Jetzt atmete sie nur noch alte und verbrauchte Luft. Luft die schon seit Jahrzehnten in diesem Raum stehen musste. Aber wie war sie hier her gekommen? Langsam schloss sie die Augen wieder. Erstens dankte es ihr ihr Kopf und zweitens würden so die Erinnerungen vielleicht schneller zurückkehren. Und tatsächlich…
Sie sah wieder den Wald, doch nicht nur die Bäume umgaben sie. Da war ein Mann. Ein großer breitschultriger Mann in heruntergekommener Kleidung und mit langem weißen Haar. Aus stechenden Augen sah er sie an, wie er da zwischen den Bäumen stand. Über dem Wald tobte ein Sturm, doch hier kam nur eine Brise an, die sein Haar und die Fetzen an seinem Körper leicht bewegten. Caitlyn war stehen geblieben und…
Sie riss die Augen wieder auf. Da waren Wölfe gewesen. Überall. Große, hungrige Wölfe, die sie angestarrt hatten, genau wie die weißhaarige Horrorgestalt. Sie hatten sich um sie versammelt, angefangen sie zu umzingeln und sie war gerannt.
Kaum dass diese Erinnerung wieder da war, konnte sie die Wölfe hinter sich schon wieder hecheln hören. Sie spürte die Äste und Zweige, die ihr ins Gesicht schnitten und sich in ihren Haaren verfingen und roch ihre eigene Angst.
Langsam richtete sie sich auf und sah sich um. Hier waren keine Wölfe mehr. Hier waren… Bücher. Langsam drehte sie den Kopf hin und her. Sie wurde umzingelt von Bücherregalen, vollgestopft mit dicken Wälzern, die aussahen, als wenn sie schon einige Jahre auf dem Buckel hatten. Dicker Staub lag überall und alles war unberührt.
Sie legte den Kopf in den Nacken. Der Raum in dem sie sich befand, war sicher an die sieben Meter hoch und die Regale zogen sich fast bis nach ganz oben unter die Glaskuppel. Wie war sie hier hergekommen? Sie sah sich wieder um und entdeckte einen umgekippten Bücherstapel. Über den musste sie gestolpert und gestürzt sein. Dieser Ort war unheimlich. Das einzige Licht kam durch die Kuppel und sie war dankbar dafür, dass der Mond fast voll und somit schön hell war.
Mühsam richtete sie sich auf und rieb sich den Hinterkopf. Schon jetzt bildete sich eine Beule. Als sie sich erneut umsah, erkannte sie, dass sie wirklich vollkommen umzingelt war von den Regalen. Keine Fenster und – was noch viel schlimmer war – keine Türen. Sie drehte sich um die eigene Achse, doch egal in welche Richtung sie auch blickte, sie konnte nichts erkennen, außer Reihen und Reihen um Bücher. Große und kleine Bücher, in Leder und Leinen, mit Goldbeschlägen und schlicht. Es gab sie in den Regalen und auf dem Boden, sie stapelten sich auf kleinen Tischen und neben dem einzigen Sessel in der großen runden Halle.
Schön. Sie war also in eine Bibliothek geflohen, aber wie um alles in der Welt war sie hier herein gekommen? Es gab keine Türen! Es gab nur diese mächtige Glaskuppel rund sieben Meter über ihr und all diese Bücher.
Sie musste irgendwie hier herein gekommen sein.
Der Staub!
Sie hatte doch sicher Fußabdrücke hinterlassen. Doch da war nichts. Sie sah sich auf dem verstaubten Boden um. Die einzigen Spuren, die sie finden konnte, waren die, die sie gemacht hatte während sie sich aufgesetzt hatte. Nicht einmal der umgekippte Bücherstapel über den sie glaubte gefallen zu sein, wies irgendwelche Spuren auf, die darauf hindeuteten, dass er sich in den letzten Jahrhunderten bewegt hatte.
Nun bekam Caitlyn es mit der Angst zu tun. Schwer atmend drehte sie sich wieder um ihre eigene Achse. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie wollte zu den Regalen rennen, sie abtasten und die Tür finden, doch eine innere Stimme sagte ihr, dass sie keine Tür finden würde. Es gab keinen Eingang. Es gab keinen Ausgang.
„Hallo?!“, rief sie zögerlich in das Halbdunkel hinein. „Ist… Ist da jemand?“
Keine Antwort. Doch eine Brise fegte durch die uralte Bibliothek und ließ sie zusammenfahren. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter.
„Okay, Caitlyn. Beruhige dich. Hier ist niemand. Hier war schon ewig niemand mehr.“
Sie schloss wieder einen Moment die Augen und atmete tief durch. Staub und der Geruch zerfallender, alter Bücher drangen ihr in die Nase.
„Ruhig… Ganz ruhig.“
Sie besann sich ihrer Selbstbeherrschung und ihrer lächerlichen Überzeugung, dass es für alles eine Erklärung gab.
„Du bist hier irgendwie rein gekommen, also kommst du auch wieder raus.“
Langsam bewegte sie sich auf eines der Bücherregale zu und sah sich dabei weiter um. Vielleicht gab es ja doch einen Ausgang. Einen Geheimgang. Sie zog an einem Buch und das Regal würde zur Seite schwingen und ihr den Weg nach draußen frei machen. So war es doch in Filmen und Bücher, oder nicht?
Doch als sie das anvisierte Regal erreichte, wagte sie es nicht die Bücher zu berühren. Selbst wenn sie einen Ausgang fände, wollte sie ihn dann wirklich benutzen? Da draußen im Wald warteten doch sicher noch die hungrigen Wölfe auf sie. Und dieser schreckliche Mann.
„Und was willst du sonst machen? Hier drin versauern?“
Sie atmete tief durch und streckte die Hand aus. Kaum dass ihre Fingerspitzen das erste Buch berührten, durchfloss sie eine angenehme Wärme. Es war als wenn warmes Wasser sie umgab und ihre Muskeln lockerte. Sie verharrte und ein paar Sekunden lang genoss sie diesen Verlust der Panik. Es gab nichts wovor sie Angst haben musste. Hier war nichts gefährliches. Rein gar nichts. Nur diese wundervollen Bücher und die endlosen Geschichten die sie beinhalteten.
Noch ehe sie verstand, was mit ihr vorging hatte sie das Buch auch schon aus dem Regal gezogen.
Sie wandte sich dem Sessel zu und – erstarrte.
Da in dem großen grünen Ohrensessel saß er. Der Mann, den sie im Wald gesehen hatte. Der Mann, der… Moment mal.
Caitlyn drückte das Buch an ihre Brust und schnappte nach Luft. Durch den Mann hindurch, konnte sie die altmodische Musterung des Stoffes erkennen, mit dem der Sessel bezogen war. Dieser Mann – oder was immer er war – war durchsichtig!
„Ich werde dir nichts tun“, sagte er. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Stimme, hallte seine kein bisschen. Sie war dunkel und rau, als hätte er sie lange nicht mehr benutzt, aber sie hallte nicht.
„Wer… was… bist du?“ Ihre Stimme zitterte und sie trat noch einen Schritt zurück. Ihr Bauch sagte, dass sie keine Angst vor ihm haben brauchte, aber ihr Verstand war da wieder ganz anderer Meinung.
„Jadon.“
Stille. Caitlyn wartete, ob noch etwas kam, doch das Wesen in dem Sessel schwieg und sah sie nur an. Keine weitere Erklärung. Kein weiteres Wort. Und keine Regung.
„Bist du… ein Geist?“
„Sowas ähnliches.“
Wieder schüttelte es Caitlyn. Heute Morgen war sie noch in der Redaktion gewesen und hatte an ihrem Artikel über eine Reihe von Diebstählen gearbeitet und jetzt stand sie in mitten eines Raumes ohne jeden Ausgang und unterhielt sich mit einem Geist?!
Game Over!
Das musste es sein. Burn out. Sie drehte durch. Ihre Versessenheit auf die eigene Karriere war ihr zu Kopf gestiegen und jetzt war sie übergeschnappt. Oder sie schlief. Sie träumte. Ja. Das musste es sein. Dann würde sie auch sicher wieder aufwachen. Sie nickte und fasste neuen Mut.
„Ich träume, oder? Das ist ein Traum.“
„Wenn du das so willst. Dann bin ich eben ein Traum. Oder ein Geist. Sieh es wie du willst. Diese Bibliothek allerdings ist es nicht. Kein Traum. Kein Geist. Keine Halluzination. Nur die Realität.“
Ihr wurde schwindelig. Das schlimme war nicht mehr der Anblick eines durchsichtigen Mannes oder das was er gesagt hatte. Das schlimme war, dass sie ihm glaubte! Wieder beschleunigte sich ihr Atem.
„Ich will hier raus. Ich muss hier wieder raus.“ Sie ließ das Buch in ihren Armen fallen und wandte sich panisch wieder den Bücherregalen zu. Es musste einen Ausgang geben. Es gab einen Eingang, denn sie war hier ja reingekommen. Und wenn es einen Eingang gab, dann musste es auch einen Ausgang geben.
„Es gibt keine Türen“, sagte Jadon. „Es gibt keine Fenster. Es gibt nur die Bücher.“
„Nein. Nein das kann gar nicht sein. Das ist unmöglich.“
Sie sah wieder nach oben. Sie könnte versuchen die Regale empor zu klettern und die Kuppel zu zerstören. Dann würde sie raus kommen. Dann würde sie frische Luft kriegen.
„Dein Ausgang sind die Bücher. Der einzige Weg an einen anderen Ort, sind diese Bücher.“
„Nein!“
Nun schrie sie und riss die Bücher aus den Regalen. Sie setzte den Fuß auf das erste Bord und zog sich hoch. Je höher sie kam, desto mehr Bücher warf sie zu Boden. Sie sah nach unten. Ein ganzes Stück hatte sie schon geschafft, doch als sie den Blick nach oben richtete, erkannte sie ihr Unglück. Sie war der Kuppel kein bisschen näher gekommen. Egal wie viel sie schon hinter sich gebracht hatte, die Kuppel war noch genauso weit von ihr entfernt wie vorher.
Ihr wurde schwindelig und ihr Griff löste sich. Sie würde fallen. Und wenn man fiel, dann erwachte man aus einem Traum. Caitlyn versuchte gar nicht sich festzuhalten. Sie ließ einfach los. Doch der Fall war kurz. Es war, als wenn sie noch auf dem untersten Brett gestanden hätte. Sie fiel nicht mal um. Sie landete auf beiden Beinen.
Jadon lachte leise. „Gib es auf. Glaub mir. Die Bücher sind deine einzige Chance.“
Sie drehte sich wieder zu ihm herum und starrte ihn an. „Was ist das hier?“
Die Angst machte der Wut in ihrem Inneren Platz.
„Das hier… bist du. Dein Traum. Dein Wunsch. Dein Unterbewusstsein.“
„Ha! Also doch ein Traum.“
Jadon schüttelte den Kopf. „Kein Traum im Schlafe. Dein Traum.“
Fast schon hysterisch strich Caitlyn sich die Haare zurück. „Okay. In Ordnung. Ich lasse mich darauf ein. Und wie wache ich wieder auf? Wie komme ich hier raus?“
„Durch die Bücher.“
Sie konnte es nicht mehr hören. „Herr Gott, ja.“
„Der hat damit nicht viel zu tun.“
„Was? Wer?“
„Der Gott. Er hat damit nichts zu tun.“ Jadon musterte sie. Sie hätte schwören können, dass er sich über sie amüsierte, doch in seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen.
„Gut. Dann… Dann erklär’ mir doch mal: wie sollen die Bücher mich hier raus bringen?“
„Schreib sie.“
„Wie bitte?“
Jadon deutete auf das Buch zu ihren Füßen. Caitlyn sah hinunter und wieder stockte ihr der Atem, als sie sah, was auf dem Buchdeckel stand: Caitlyn Todd – Bücherstaub.
Sie hob es mit bebenden Fingern auf und öffnete es.
Doch die Seiten waren leer. Sie sah wieder zu Jadon auf.
„Schreib es“, wiederholte er. Dann löste er sich in eine Staubwolke auf. Auf dem Sessel blieb ein alter Füller zurück…
Caitlyn sah zu den anderen Büchern, die sie auf dem Boden verteilt hatte. Jedes dieser Bücher trug ihren Namen und verschiedene Titel. Titel, über die sie sich einst Gedanken gemacht hatte. Angefangene Werke, die sie nie vollendet hatte. Sie hatte keine Zeit gehabt zum schreiben. Wie konnte das nur angehen? Dieser Raum schien voll zu sein mit ihren Gedanken. Geschichten, die sie mal hatte schreiben wollen und die es nie aufs Papier geschafft hatten.
„Was ist doch Irrsinn.“
Und trotzdem glitt ihr Blick wieder zu dem Sessel und dem Füller, der darauf lag. Sie nahm das kühle Metall auf und setzte sich. Langsam schlug sie das Buch wieder auf und starrte auf die leere Seite.
Schreib es…

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